Interviews als Tor zu den Kundenwünschen in agilen Projekten

Interviews sind eine gute Methode, um Kundeneinsichten zu generieren.
Interviews sind eine gute Methode, um Kundeneinsichten zu generieren. - Foto: canva.com

In agilen Projekten stellt sich an vielen Stellen die Frage nach der Kundensicht. Eigentlich ist die Einbindung dieses Stakeholders sogar elementarer Bestandteil. Ein Weg, diese Einsichten zu generieren, sind Interviews – hier gibt es aber einige Hürden.

Agile Playbooks sind oft gut gemacht. Sie zeigen kurz und knapp Methoden und Tools auf, die sich gut in verschiedenen Prozessschritten integrieren lassen. Es gibt einfacherer Methoden oder Methoden, die sich schon an mit dem Mindset vertrautere Personen wenden.

Das Problem beim Interview ist, dass es zwar elementar ist. Denn der echte Kontakt mit Kunden ist einer der wichtigen Mantren agiler Methoden wie dem Design Thinking. Aber es lässt sich auf der anderen Seite nicht mit einer Playbook-Seite „erlernen“, es ist alles andere als eine einfache Methode. Das Problem: Viele dieser Playbooks und Tipps haben dummerweise aber diesen Anspruch: Eine Seite lesen und danach bist Du der perfekte Interviewer!

Beispiel: 3 Mal Warum fragen führt am Kern vorbei

Es gibt einige „Methoden“ rund um das Interview, die versuchen, ein gezielteres Fragen zu unterstützen. Dazu zählt die im agilen Umfeld sehr beliebte Methode des Warum: Wahlweise drei oder fünf Mal soll hier der Interviewer nach einer Eingangsfrage Warum fragen.

Jetzt stelle Dir aber bitte vor, was passiert, wenn jemand Dich in einem normalen Gespräch stoisch nach der ersten Frage drei oder fünf Mal nach dem Warum fragt. Im Extremfall entsteht eine Art Verhör, im besten Fall doch mindestens eine unangenehme Situation.

So ist das Ziel dieser Methode – nämlich den Kern der Aussage, das zugrundeliegende Bedürfnis zu erfragen – zwar richtig. Der Weg dorthin ist es aber nicht. Zumindest dann nicht, wenn man diese Fragetechnik zum alleinigen Dreh- und Angelpunkt seines Interviews macht. Denn nicht nur das Ziel eines Interviews ist bei der Befragung von Kunden wichtig, sondern vermutlich noch viel wichtiger die Art des Interviews. Und das aus einem ganz einfachen Grund: Wenn ein Interviewpartner sich unwohl fühlt, nicht respektiert fühlt, das Gefühl hat, dass der Interviewer sich nicht wirklich für ihn interessiert – dann wird er einfach nicht die wirklich interessanten Sachen erzählen, sondern Sachen unter Druck sagen, die sogar in die Irre führen können.

Großer Unterschied zwischen Vorbereitung und Durchführung

In Bezug auf das Interview gibt es in dieser Beziehung eine gute und eine schlechte Nachricht: Auch jemand, der keine Interviewerfahrung hat, kann es sehr gut vorbereiten. Die schlechte Nachricht ist allerdings: Das heißt nicht, dass er es auch gut durchführen kann.

Ich bin von Hause aus Journalist: Und unter Journalisten ist es eine ganz klare Erkenntnis, dass die Recherche der eigentlich wichtige Teil eines Artikels ist. Das Verfassen ist reines Handwerkszeug. Die Recherche nimmt anteilig an einem Artikel, den ich schreibe, 50 bis 80 Prozent der Zeit in Anspruch. Und es ist ganz klar: Wenn ich schlecht recherchiert habe, kann ich auch mit der besten Dramaturgie und mit dem schönsten Stil den aus der schlechten Recherche entstehenden schlechten Inhalt nicht mehr nachträglich kaschieren.

Das Interview ist eine wesentliche Recherchemethode für Journalisten. Übertragen auf einen agilen Prozess, führt ein schlecht geführtes Interview am Ende zu fehlenden oder falschen Erkenntnissen. Rein technisch können auch wenig erfahrene Interviewer ein Interview auswerten und weiterverarbeiten – zum Beispiel in Form von Jobs-to-be-Done-Statements oder für How-might-we…?-Methode. Rein inhaltlich ist das Ergebnis – aufgrund der schlechten Interviewführung – aber äußerst dünn.

Wie führt man gute Interviews?

Nun stellt sich natürlich die Frage, wie man dennoch gute Interviews führen kann. Dazu empfehle ich den Blick auf drei ganz unterschiedliche Aspekte:

  • Was ist das Ziel?
  • Welche Rolle spielt der Kontext?
  • Was ist die Art?

Schon bei der ersten Frage nach dem Ziel sind viele Methoden im agilen Umfeld keine große konkrete Hilfe mehr. Sie ist allerdings elementar – und Rob Fitzpatrick schildert sie in seinem Buh „The Mom Test“ sehr schön. Wenn Du wirkliche Einsichten aus einem Interview generieren möchtest, dann darfst Du keine Fragen stellen, die Dich nur beruhigen sollen. Solche Fragen sind zum Beispiel nach einem Preis, den Dein Kunde bereit wäre, für Dein Produkt zu zahlen. Oder ob er oder sie ein bestimmtes Feature toll findet. Nicht nur, dass die Antwort Deines Interviewpartners – aus reiner Höflichkeit und auch, weil es rein hypothetische Fragen sind – unwahr sein wird. Sie führt Dich auch nicht zum eigentlichen Kern des Problems. Du möchtest nämlich doch eigentlich wissen, ob Dein Produkt für den Kunden reizvoll sein könnte. Und zwar nicht so abstrakt, sondern weil es für ein bestimmtes Problem Deines Kunden eine tatsächliche Lösung darstellt.

Um das herauszufinden, musst Du aber zumindest in den ersten Phasen der Ideengenerierung überhaupt erstmal erfragen, was denn das eigentliche Problem und Bedürfnis Deines Kunden ist.

Beispiel: Du denkst über ein App zum Thema Nachhaltigkeit für Autos nach. Du befragst nun jemanden, reiner Zufall, der überhaupt kein Auto hat. Wenn nun Deine erste Frage wäre: Würdest Du eine App installieren, mit dem Du die Nachhaltigkeit Deiner Autofahrten messen könntest? – dann wäre das Interview nach nur einer Frage beendet. Und interessanterweise: Du hättest – obwohl die befragte Person gar nicht zu Deiner Kernzielegruppe gehört – eine große Chance auf echte Erkenntnisse vertan. Du hättest ihn nämlich sehr intensiv nach seinen Mobilitätslösungen befragen können und den Gründen, warum er diese nutzt. Und auch den darin liegenden Chancen und Schwierigkeiten, den zugrundeliegenden Bedürfnissen, den Ängsten und den Wünschen. Das hätte Dich Deinem Versuch, die zugrundeliegenden Bedürfnisse und Probleme mit Mobilität und Nachhaltigkeit zu ergründen, sehr viel weiter gebracht.

Was ist der richtige Kontext, um ein Interview zu führen

In vielen Design-Thinking-Workshops werden die Teilnehmer einfach auf die Straße geschickt, um wildfremde Leute zu interviewen. Ich bin seit 25 Jahren Journalist und mit ist es bis heute extrem unangenehm, ziellos in irgendeiner Fußgängerzone Menschen zu befragen.

Und ich frage mich ernsthaft, was die zahlreichen Coaches mit diesem Experiment beweisen wollen. Dass man Coolness erlernen kann?

Denn dem Ziel, eine Idee zu hinterfragen, kommen sie in einer solchen Drucksituation nicht wirklich näher. Sowohl der Passant in der Einkaufsstraße wird nicht die Ruhe und die Zeit für gute Antworten mitbringen. Und auch der Interviewer wird nicht wirklich tief fragen können.

Der einzige Effekt ist, dass sich alle Seiten unwohl fühlen, sich schämen, über ihren eigenen Schatten springen müssen. Aber wofür?

Viel sinnvoller ist es, für einen guten Kontext zu sorgen. Es spricht überhaupt nichts dagegen, gezielt nach Interviewpartnern zu suchen, zum Beispiel im Freundeskreis oder auch gezielter in Richtung Unternehmen, mit denen man vielleicht zusammenarbeiten möchte. Wir können mit unseren Kundeninterviews ohnehin keine wirklich repräsentativen Ergebnisse einsammeln. Darum geht es aber auch nicht. Wir wollen Einsichten in Probleme und Bedürfnisse erlangen, die wir vorher noch nicht hatten.

Die richtige Art, ein Interview zu führen

Während Du die ersten beiden sehr wichtigen Aspekte für ein gutes Interview Dir sehr einfach erarbeiten kannst, ist die Frage nach der richtigen Art viel schwieriger. Sie hängt nämlich auch mit Deiner Erfahrung zusammen. Wenn Du noch nie ein Interview geführt hast, wirst Du nervös sein, Dich später darüber ärgern, dass Du nicht alles erfragt hast. Das ist völlig normal: Mit der Erfahrung kommt hier die Gelassenheit. Um immer bessere Interviews zu führen, gibt es ein paar generelle Tipps:

  • Sorge für eine angenehme Atmosphäre: Dies erreichst Du einerseits durch den richtigen Kontext, andererseits aber auch dadurch, dass Du das Interview wie ein ganz normales Gespräch führst. Also: Du fängst nicht sofort mit den Fragen an, sondern machst erstmal ein Warm-Up. Je nach Situation und Interviewpartner dauert das mal länger, mal kürzer.
  • Keinen Fragekatalog abarbeiten: Es ist falsch, mit 20 vorgefertigten Fragen in ein Interview zu gehen. Denn es kommt nicht darauf an, dass Du alles erfragt hast, sondern dass Du bei den wirklich interessanten Aspekten nachgefragt hast. Schreibe Dir maximal vorher das Themengebiet auf und die drei zentralen Stichpunkte: Was sind die Wünsche, Bedürfnisse und Probleme Deines Interviewpartners?

Natürlich wird Dein Interviewpartner am Anfang abstrakt antworten. Lausche nach den überraschenden, interessanten Aspekten, die Dich ganz persönlich triggern und frage hier immer mehr im Detail nach.

Du darfst dabei auch mal kommentieren, einordnen, doppelte Fragen stellen, komische Fragen stellen. Das ist alles total normal, denn es ist auch in einer normalen Gesprächssituation normal. Du möchtest das Interview ja schließlich nicht hinterher als total spannenden Artikel veröffentlichen, sondern es dient nur dazu, Dir interessante Einsichten zu ermöglichen.

Beispiel: Ich sende Interviewpartnern vor einem Interview oft zehn Leitfragen zu. Das mache ich aber nicht, weil ich mich daran halte. Sondern es dient alleinig der Beruhigung des Interviewpartners. Ich frage schon von der ersten Frage an etwas völlig anderes. Wenn ich für meinen Podcast über Social Media zum Beispiel in der Mail an den Interviewpartner auch die Frage eingebunden hatte, wie er seine Followerschaft steigert, dann kann es dennoch sein, dass ich im realen Gespräch danach gar nicht frage. Oder wenn ich dort angebe, dass mich alle Social-Media-Kanäle interessieren, dann kann es dennoch sein, dass ich ihn ausschließlich nach LinkedIn befrage. Der Hintergrund ist ganz einfach: Hier hatte ich im Verlauf des Gesprächs das Gefühl, dass hier echt interessante Dinge in meinem Interviewpartner schlummern. Ich muss nicht die komplette Welt erfragen, es reicht, wenn ich für einen Teilaspekt aus seinem Leben ein möglichst authentisches und plastisches Bild zeichne, welches seine Wünsche, Bedürfnisse und Ängste widerspiegelt.

Bei den Social-Media-Interviews war meine Einstiegsfrage übrigens meistens sehr offen: Was bedeutet Social Media für Dich (beruflich)? Daraus konnte sich dann ein Gespräch entwickeln.

Fazit: Sehe ein Interview mit Deinen Kunden nicht als ein Verkaufsgespräch oder ein Verhör. Sprich einfach mit ihm völlig normal über seinen Alltag mit seinen Problemen, Wünschen und Bedürfnissen. Und Du wirst interessante Einsichten generieren. Und es gilt: Nur wer viele Interviews führt, wird irgendwann auch richtig gute Interviews führen. Die einfachen Tricks mancher Playbooks führen Dich leider in die Irre.

Jörg Stroisch ist agiler Coach und Journalist mit dem Schwerpunkt Design Thinking. Rund um Design Thinking bietet er Grundlagenworkshops an. Und zusätzlich Spezialworkshops zur Interviewführung und Beobachtung in agilen Projekten.

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