Die „Observe“-Phase ist im Design Thinking ein elementarer Bestandteil. Auch andere Methoden wie etwa Scrum sehen eine direkte Einbeziehung unterschiedlicher Stakeholder in den Entwicklungsprozess vor. Auch in klassischen Wasserfall-Methoden ist es natürlich absolut empfehlenswert. Und das hat auch seinen Grund, den ich aus dem Journalismus ableiten möchte. Hier gehe ich nämlich davon aus, dass ein guter Text wie folgt entsteht:
- 75 Prozent: Inhalt
- 20 Prozent: Struktur
- 5 Prozent: Stil
Sprich: Die oft viel zitierten schreiberischen Fähigkeiten entstehen zuallererst durch den Inhalt. Der Stil ist nur das i-Tüpfelchen. Um aber einen guten Inhalt zu erhalten, muss man recherchieren. In meiner täglichen Arbeit liegt der Anteil der Recherche an einem fertigen Text bei etwa 90 Prozent; das Verfassen kostet mich nur einen Bruchteil der Zeit. Allerdings bin ich natürlich auch ein Profi-Schreiber.
Schlechte Recherche führt zu falschen Einsichten
Wenn ich aber „schlecht“ recherchiere, erhalte ich „schlechte“ Inhalte. Übertragen auf die agilen Methoden bedeutet das, dass ich dann einfach keine guten Einsichten erhalte. Im Groben und Ganzen besteht die Recherche aus etwa drei Methoden:
- Interview
- Generelle Recherche, etwa im Web
- Beobachtung
Das Experiment, welches auch gerne angewandt wird, ist meiner Meinung nach eine Untermethode der Beobachtung. Während das Interview noch naheliegt, verzichten leider viele agile Teams auf die Beobachtung. Dabei ist sie oft viel einfacher umzusetzen und bringt tolle Erkenntnisse.
Beispiel: Ein Entwickler möchte eine App entwickeln, die Menschen beim Sparen von Geld hilft. Es wäre absolut naheliegend, sich dazu zum Beispiel bei einem Bankberater einen Tag mit in die Filiale zu setzen, um hier die tatsächlichen Sorgen, Wünsche und Probleme der Sparer zu erfahren, die alltäglich auftreten – anstelle sich am grünen Tisch dazu seine Gedanken zu machen.
Das findet aber fast nie statt.
Mit allen Sinnen beobachten
Dabei ist es recht einfach. Das Einzige, was man als Beobachter mitbringen muss, ist viel Zeit und einen Block und Stift. Der Rest funktioniert fast von alleine. Beobachtungen lassen sich nicht in fünf Minuten machen, eher in fünf Stunden. Und bei der Beobachtung spielen zwei Gruppen von Eindrücken eine große Rolle:
- Sinneseindrücke: Alle fünf Sinne, nicht nur das Sehen, werden eingesetzt. Also auch das Riechen, Schmecken, Hören und Fühlen.
- Szenerie: Nicht nur die Dialoge der Beobachteten sind hier wichtig, sondern auch deren Verhalten und der Kontext, in dem sie sich verhalten.
Wer gut beobachtet, beobachtet vor allem Details. Es ist eine grundlegende Regel bei journalistischen Reportagen, dass man vom Detail aufs Allgemeine schließt – und nicht umgekehrt. Wir neigen aber – das ist ganz normal – dazu, zunächst das Allgemeine verstehen zu wollen, bevor wir uns mit Details beschäftigen. Bei der Beobachtung für unsere agilen Projekte sollte es aber genau umgekehrt funktionieren.
Leider ist eine Aussage wiederum sehr abstrakt. Deshalb hier ein Beispiel aus der Natur: Du kannst den Baum als Ganzes betrachten, nur einen Ast oder sogar nur ein Blatt, und auf dem Blatt vielleicht auch nur der Rauhreif-Tropfen.
Das Interessante dabei: Wenn Du Dich entschließt, den Rauhreif-Tropfen zu beschreiben – was übrigens gar nicht so einfach ist -, dann transportierst Du damit eine wichtige Stimmung. Du brauchst vermutlich gar nicht mehr schreiben, dass Du Dich hier an einem kühlen Morgen aufhälst. Es entsteht „Kino im Kopf“.
Jetzt ist manchmal der Gedanke naheliegend, zu fragen, was das konkret mit den Kunden zu tun hat. Meiner Meinung nach sehr viel: Es beschreibt nämlich den Kontext, in dem der Kunde sich gerade bewegt. Und es ist für mich unumstritten: Der Kontext beeinflusst auch massiv sein Verhalten.
Die Beobachtung erfassen
Wie schon gesagt: Ich glaube, dass einen intensive Beobachtung viel Zeit benötigt. Jetzt gibt es verschiedene Methoden, diese zu erfassen. Video, Fotos, Audioaufnahme, aber auch Stichpunkte auf einem Blatt Papier. Ich würde Dir aus eigener Erfahrung von allen diesen Methoden abraten und schlage Dir das Verfassen von Teasern vor.
Teaser leiten einen Text ein, und zwar so, dass jeder in sofort gerne weiterlesen möchte. Teaser bestehen vielleicht aus drei bis vier Sätzen. Das würde ich jetzt nicht so streng sehen. Aber er sollte für unseren Zweck nicht mehr als ein bis zwei Absätze lang sein.
Und nun machst Du in der kompletten Beobachtungsphase nichts anderes, als am laufenden Band Teaser zu verfassen. Mache auch mal eine Pause, lasse mal was weg. Übe Dich an Sinnesbeobachtungen oder Szenenbeschreibungen. Am Ende hast Du immens viel Text verfasst. Achte dabei auf Folgendes:
- Verfasse lieber kurze Sätze als komplizierte.
- Vermeide nach Möglichkeit Adjektive und Adverben.
- Schreibe in starken Verben.
- Schreibe nicht Deine eigene Meinung und Bewertung auf.
Die Ergebnisse weiterverwenden
Nun hast Du sehr viele Teaser verfasst. Wähle die aus, die Dich am meisten ansprechen, triggern. Wenn ich eine Reportage schreibe, verwende ich am Ende von den vielleicht 20 aufgeschriebenen Teasern nur 5. Die, die aus meiner Sicht am Ausdruckstärksten sind, am meisten Atmosphäre zeigen.
In agilen Methoden sind das dann die Teaser, die die meisten echten Einsichten über echtes Kundenverhalten vermitteln. Sprich: Sie triggern bei Dir ein Nachdenken über tatsächliche Probleme Deiner tatsächlichen Kunden oder Nutzer.
Die verarbeitest Du dann zum Beispiel zu Jobs-to-Be-Done- oder How-might-we…?-Statements weiter, baust daraus eine User Story, eine Persona oder eine Empathy Map, bindest Erkenntnisse daraus in ein Lean Canvas ein und und und. Es gibt unendlich viele Stellen im agilen Prozess, wo Du die Erkenntnisse gut verwenden kannst.
Das Hauptziel ist und bleibt aber: Die Ergebnisse sollen Dich und Dein Team triggern. Deshalb würde ich auch immer empfehlen, dass das Team selbst diese Beobachtungen durchführt, vielleicht unter Anleitung. Denn die Erkenntnisse daraus sollten nicht einfach konsumiert, sondern tief verinnerlicht werden.
Jörg Stroisch ist agiler Coach und Journalist mit dem Schwerpunkt Design Thinking. Rund um Design Thinking bietet er Grundlagenworkshops an. Und zusätzlich Spezialworkshops zur Interviewführung und Beobachtung in agilen Projekten.